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Zur Verzweiflung gebracht

Egal, wie lang der Arbeitsweg ist – man trifft unterwegs immer wieder auf skurrile Persönlichkeiten oder schnappt ungewollt kuriose Gesprächsfetzen auf. Von diesen Momenten berichtet diese Kolumne berichten.

In meiner letzten Pendler-Kolumne berichtete ich bereits über Mitfahrende im Zug, die wohl eher nicht in die Kategorie der angenehmen Zeitgenossen fallen dürften. Glücklicherweise waren ihre Aggressionen aber nicht gegen mich gerichtet. Anders erging es mir letzten Herbst: Nach einem strengen Arbeitstag freute ich mich auf eine gemütliche Heimreise von Chur via Filisur nach Davos. Am Ausgangsbahnhof stellte ich erfreut fest, dass der moderne Albula-Zug um zwei ältere Zusatzwagen ergänzt wurde. Zum einen schaukeln diese weniger, zum anderen kann man dort die Fenster öffnen. Da ich beabsichtigte, ab und an ein wenig den Kopf herauszustrecken, aber keine Mitfahrende brüskieren wollte, setzte ich mich in den kleinen Vorraum des vorderen, älteren Waggons. «Da wird sicherlich niemand zu mir dazusitzen», dachte ich. Doch ich irrte. Kurz vor Abfahrt setzte sich ein Mann – grob geschätzt um die 40 Jahre alt – auf den Klappsitz vis-à-vis von mir. Begeisterung löste das in mir nicht wirklich aus, insbesondere, da er stark nach Zigarettenrauch roch. Es passte daher auch ins Bild, dass er drei Dosen Bier mit sich schleppte. Zugegeben, auch ich habe mir schon ein Bierchen im Zug gegönnt. So hatte ich vorerst nichts gegen ihn einzuwenden.

Das änderte aber schlagartig, als er kurz nach Abfahrt zu telefonieren begann. Und das nicht etwa, wie jeder normale Mensch es tut, mit dem Handy am Ohr, nein, er palaverte via Freisprechanlage mit seinem Gesprächspartner in einer mir vollkommen unverständlichen Sprache. Wenn ich etwas nicht ertrage, dann ist es das «Geschäpper» dieser Handy-Lautsprecher im Zug. Nach einer Weile gab ich ihm zu verstehen, dass mich seine Art zu telefonieren nervte. Als Gegenmassnahme öffnete ich das Fenster, so weit es ging, in der Hoffnung, der Eisenbahnlärm würde ihn dazu nötigen, sein Mobiltelefon nun endlich ans Ohr zu nehmen. Doch er liess sich davon nicht abbringen. Nach etwa zehn Minuten war die Tortur vorüber und ich hoffte auf eine Verbesserung unseres Miteinanders.

Dann aber ging es erst richtig los. Ich sei ein Arschloch, meinte er. Und ich sei zu dick. Deshalb würde mein Gehirn nicht richtig funktionieren, sagte er. Ich nickte und bedankte mich für seine Einschätzung, entgegnete ihm aber, dass es nun halt mal Regeln im Zug gebe, an die man sich zu halten habe. Er wiederum empfahl mir, in die erste Klasse zu sitzen, worauf ich ihm entgegensetzte, dass ich ja zuerst in diesem Abteil sass. Er beharrte aber auf seinen Rechten und beleidigte mich eine Zeit lang noch weiter. Vielleicht lag das auch an der Wahl seiner Biermarke. Er pflegte den Konsum von «Desperados». Und gemäss Wikipedia bezeichnet dieser Begriff im engeren Sinne «das Mitglied einer sich ausserhalb jeglicher Gesetze stellenden Gruppe, die in der Regel extreme politische und umstürzlerische Absichten verfolgt». Abgeleitet wird das Wort von spanisch «desesperado», was «verzweifelt» bedeuten soll. Der Verzweifelte war in diesem Falle aber ich. Und ja, ich war wirklich kurz davor, meinen Sitzplatz zu wechseln. Doch so schnell liess ich mich nicht einschüchtern. Mein Instinkt sagte mir nämlich, dass mein Mitfahrer den Zug in Thusis verlassen wird. Denn dort – sagen wir es mal gepflegt – scheint die Quote an dubiosen Gestalten etwas höher zu sein als im Bündner Durchschnitt. Und ich hatte recht: Der Herr stieg – mit mittlerweile zweieinhalb Dosen Bier intus – aus dem Zug, schmiss mir noch einige Beleidigungen an den Kopf und schlurfte davon. Ich triumphierte innerlich, mich von diesem Schlawiner nicht beirrt haben zu lassen. Doch eine angenehme Reise stellte ich mir anders vor. Immerhin: Auf dem weiteren Weg konnte ich es geniessen. Und ich kam wohlbehütet in Davos an.