«Hopp, hopp in den Stall»
Der wunderschöne Spätsommertag am ersten Freitag im September meint es gut mit strahlend blauem Himmel und weissen Wolken wie Zuckerwatte. Auf rund 1780 Metern über Meer präsentieren sich die mit Blumenkränzen geschmückten Kühe in zwei Reihen und strecken den «gwundrigen» Menschen beim Eintreffen auf der Alp Malix ihre Pobacken entgegen. Als würden sie bereits zum Tal herunterschauen. Dahin, wo es bald hingeht.
Der Alpabzug steht an: Eine jahrhundertealte Tradition, die aufzeigt, dass der Sommer sich langsam zu Ende neigt. Dass es an der Zeit ist, die Kühe in ihr Winterquartier zu führen, nachdem sie den ganzen Sommer über auf saftigen Alpwiesen gegrast, Freunde aus anderen Ställen gefunden und sich in den Wäldern vor der heissen Sonne geschützt haben.
Laut klingen sie, die Glocken, welche die Kühe für diesen ganz besonderen Tag um den Hals tragen und das emsige Treiben rundherum übertönen.
Ein kleiner Junge – Leon – in einem Edelweisshemd und frecher blau-weiss gestreifter Mütze kann den Abzug kaum erwarten. «Jetzt sollen die Kühe runter ins Dorf und dann hopp, hopp in ihre Ställe», ruft er und wirbelt seinen mit einer Sonnenblume geschmückten Stock umher.
Ein grüner Traktor steht mitten auf der grünen Wiese. Traumhaft ist der Ausblick zu anderen Berggipfeln rundherum. Wie idyllisch. Hier oben haben sich Vieh und Mensch bestimmt einen schönen Sommer gegönnt. «Bettruhe kurz vor elf Uhr abends und Aufstehen zwischen drei und vier Uhr nachts», klärt Isidor, der Senn aus Basel, über den Tages- und Nachtrhythmus auf. Der Schlaf blieb die vergangenen Wochen wohl auf der Strecke. Trotzdem sei es ein schöner Sommer gewesen, so Isidor. «Die Trockenheit war für das Tierfutter sicher nicht vorteilhaft und die Fliegenplage für die Kühe nicht ganz so entspannt, aber hier hatten wir es mit etwas Regen zwischendurch gut im Vergleich zu anderen Regionen.»
Die einen Kühe schmiegen sich an ihre Freunde und suchen Schutz. Andere wollen am liebsten sofort los und versuchen sich vom Zaun loszureissen. Jede in ihrer Rolle und jede mit unterschiedlichem Temperament. Beschützer,innen nach Schutz Suchende. Rebellinnen. Ruhige. Scheue. Laute. Alle so ähnlich und doch so verschieden. Die Sonne brennt und Fliegen setzen sich frech auf die Köpfe der Kühe. Wann geht es endlich los?
Die Helferinnen und Helfer versuchen, ruhig zu bleiben. Bauern in Hemden, manche mit Hosenträgern oder Zipfelmützen und mit kleinen Zigarrenstumpen im Mundwinkel, gehen umher. Vorfreudige Nervosität liegt in der Luft. Frauen in schönen Sommerkleidern und Blumenschmuck im Haar packen mit an. Aufgeregte Kinder, wie Leon, warten ungeduldig darauf, dass es endlich losgeht. Und alle versuchen, im Zeitplan zu bleiben, rennen hin und her mit letztem Blumenschmuck, versuchen protestierende Kühe zu bändigen und treffen letzte Vorbereitungen. «Ja, die meisten Namen der Kühe kenne ich», sagt der eine
Bauer, «die helle Kuh dort heisst Oliabi und die hier mit dem weissen Flecken auf der Stirne ist Tatjene», und schon rennt er wieder weg, weil jemand ihn ruft. Eine Kuh ist ausgebrochen. Die Rebellin hat ihren Teil des Zauns zerstört und rennt wild umher. Die Nervosität überträgt sich von einer auf die andere.
Alle Helferinnen und Helfer versammeln sich. Stossen an auf den gelungenen Sommer. Und dann werden sie hochgehoben, die nach Zwetschgen riechenden Becher. Für einen kurzen Moment ist die Aufregung vergessen. Stolz und Freude verbindet die Gemeinschaft. «Dieses Jahr haben wir insgesamt 51 000 Liter Milch gemolken und verarbeitet», erzählt der Senn. Und Käse konnten rund fünf Tonnen produziert werden.
Auf einmal geht es schnell. «Die drei gehörnten Kühe zuerst!», ruft einer der Truppe, «und wenn eine Kuh vorwärts will, einfach ziehen lassen.» Genau das wird zur Realität. Die ersten Kühe rennen. Nichts mit ruhigem gemütlichem Marsch ins Tal. Die Kühe sind schnell. Und wild. Als wollten sie so rasch wie möglich zurück in ihren Stall. Die Bauern und Helferinnen rennen hinterher, den braunschwarzen Spuren auf dem Asphalt folgend. Auch Leon eilt mit seinen kurzen Beinchen hinterher.
«Die Kühe sind sich nicht an diese Aufregung gewöhnt », sagt Isidor, während Leon auf den Rücken eines Esels gehoben wird. Leon strahlt stolz. Isidor ist froh, dass trotz Unruhe alles rund läuft. Das Wichtigste sei, dass die Tiere gut unten ankommen.
«U huara schön, wie wir den Sommer gemeinsam gemeistert haben», sind sich alle einig, als alle im Dorf eintreffen. «Ein temperamentvoller Abzug, aber alles noch in einem guten Rahmen», sagen zwei Bauern aus Malix. Das zeige auf, dass die Kühe noch fit sind nach den drei Monaten auf der Alp.
Für die Kühe geht es jetzt zurück in ihren gewohnten Stall. «Nach diesem ereignisreichen Tag werden sie sich heute bestimmt gerne hinlegen und die Ruhe geniessen», sagen die Bauern. Aber nicht nur die Kühe haben Erholung nötig. «Am meisten freue ich mich jetzt auf mein Bett und darauf, eine ganze Woche richtig zu schlafen», sagt Isidor.