Geschichten auf Schienen
Davos Bahnhof in den 1920-er Jahren. Schwerfällig steht die Lok auf den Schienen. Auf einem schwarzen Schild ist sie in goldenen Ziffern angeschrieben: 414. Ein Blick in die Wagen der 1.Klasse: Hier sitzt es sich bequem in bunt gemusterten Ohrensesseln. In der zweiten Klasse genügen einfache, holzige Bänke. Die Kondukteurin trägt einen eleganten schwarzen Hut und eine einfache Uniform. Mit schnellen Schritten geht sie den Wagen entlang. Der Lokführer steht vor dem braunen Monstrum und blickt sich um. Er trägt ein rotes Halstuch und einen blau-weiss gestreiften Arbeitsanzug aus Baumwolle. Nostalgie pur – wären da nicht die modernen Trekkingschuhe an seinen Füssen. Und die Smartphones, mit denen die Leute auf dem Perron Fotos von der Lock machen.
In Tat und Wahrheit schreiben wir das Jahr 2021. Es ist ein nebliger Tag, der dem Oktober alle Ehre macht. Lokführer Jean-Luc Hofer ist ein grosser Mann mit grosser, schwarzer Brille. Sein heutiger Arbeitsort ist der kleine Führerstand der Lokomotive, die sehr viel älter ist als er selbst. Das Krokodil, so nennt man die Ge6/6 umgangssprachlich, hat den Jahrgang 1929. Heuer feiert diese Kult-Lok der Rhätischen Bahn gar ihren 100. Geburtstag. Anlass genug, auf den Schienen eine Zeitreise zu machen.
Im Führerstand riecht es nach Metall und Öl. Durch das halbgeöffnete Fenster strömt frische Luft ins Kabäuschen. Goldene Hebel, kupferfarbene Kurbeln, diverse Knöpfe und analoge Anzeigen. Jean-Luc Hofer zieht sich die zwei Tritte hoch und schliesst die Tür hinter sich. Mit einem lauten «Klack» fällt sie zu. Der Lokführer platziert das gelbe Walkie-Talkie auf der Armatur und streckt dann seinen Kopf aus dem Fenster. Er blickt nach links und nach rechts. Verwaschen kommt das Signal aus dem Funkgerät: «Chasch fahra.» «Isch guat, fahra», antwortet er. Jean-Luc Hofer zieht den Kopf zurück und mit seiner rechten Hand an einem schwarzen Hebel, der von der Decke hängt. Drei lange und dann ein kurzer Pfiff ertönen. Es geht los. Der Lokführer dreht die grosse Kurbel vor sich. Erst langsam, dann immer schneller. «Das ist wie die Gangschaltung beim Auto», erklärt er. Die Lok setzt sich in Bewegung. Erst langsam, dann immer schneller.
An dieser Stelle ein bisschen Eisenbahnromantik und ein bisschen Geschichte. Um 1920 geht ein Elektrifizierungsschub über das gesamte Netz der RhB. Die Bahn besitzt zu dieser Zeit bereits elektrische Lokomotiven, jedoch waren, auch im Hinblick auf einen Verkehrsaufschwung, leistungsfähigere Maschinen gefragt. 1919 bestellte die RhB sechs Loks nach dem Vorbild der Ce 6/8-Lokomotiven der SBB. Die neuen Maschinen waren imstande, einen Zug von 200 Tonnen auf der andauernden 35-Promille-Steigung der Albulalinie zu ziehen. Die «Krokodile» – so nennt man die Loks wegen ihrer eigenwilligen Form, die an die Schnauze des Reptils erinnert – werden fortan vorwiegend auf steigungsreichen Strecken eingesetzt. Und das während einer langen Zeit. Bis 1973 sind die Loks während der Hochsaison als Schnellzüge auf der Linie Landquart–Davos im Einsatz. Dann werden sie ausgemustert. Ausgestorben sind die Reptilien auf Schienen in Graubünden dennoch nicht. Zwei Krokodile sind noch immer betriebsfähig und verkehren situativ als Güterzüge, bei Extrafahrten oder als Nostalgiezug zwischen Davos und Filisur.
So auch heute. Den Bahnhof Davos haben wir hinter uns gelassen. Genau so die ersten Tunnel. Im Führerstand ruckelt und dröhnt es. Es ist laut. «Moment schnell», sagt Jean-Luc Hofer. Er zieht kurz am Hebel der Bremse, die über den pneumatischen Druck die Wagen bremst. Ein kurzes, lautes Zischen. Dann wieder das rhythmische Klacken und Klopfen. «Mit dieser Lok muss man besonders vorausschauend fahren. Aber ich fahre sie gern. Es ist eine schöne Abwechslung», meint er. «Als eine der ältesten elektrifizierten Loks der RhB begeistert sie die Massen. Die Handys werden immer schnell gezückt.»
Auch Jean-Luc Hofer begeistert sich für die Krokodil-Lok, aber auch sonst für Züge. Es sei ein Bubentraum, den er heute lebe. «Auch wenn ich diesen als Teenager aus den Augen verloren habe und erst vor ein paar Jahren wiederfand.» Er erzählt von seinem Alltag im Führerstand. Von Vor- und Nachteilen und davon, dass die Arbeit ganz allgemein viel Verantwortungsbewusstsein verlange. Heute, früher aber noch viel mehr.
Immer wieder lässt Jean-Luc Hofer seinen Blick über die Armaturen und Anzeigen schweifen. Kontrolliert die Pfeile, die ausschlagen. Die Geschwindigkeit, die Bremslast. Anders wie beim Autofahren verlässt er sich nicht auf ein Navi. Er kennt die Strecke genau. Und das sogar, bevor er sie überhaupt je selbst gefahren ist. «Zu Beginn findet viel im Theoriesaal statt. Wir lernen die Strecken mit all ihren Tücken auswendig. Dann begleiten wir den Lehrmeister auf seinen Fahrten. Später werden wir begleitet. Es ist ein Prozess», meint er. Und zeigt auf ein Schild, das vor der Lok neben den Geleisen auftaucht. «Hier darf ich höchstens 65 Stundenkilometer schnell fahren.» Er lacht. «Bei dieser Lok kein Thema. Sie kann nicht schneller als 55.» Wir passieren eine kurze Strecke mit einem Gefälle und einer leichten Linkskurve. Jean-Luc Hofer zeigt auf ein Schild mit schwarzen Längsstreifen auf weissem Grund. «Ab hier gilt wieder die Streckenhöchstgeschwindigkeit. Wie auf der Autobahn», erklärt er.
Wir machen nochmal einen Zeitsprung in die 1920er-Jahre. Und damit auch technisch ein paar Schritte zurück. «Bei Lokomotiven wie dieser hier existiert so gut wie keine Sicherheitssteuerung. Man muss jeden Griff ganz bewusst machen. Bei den heutigen Loks übernimmt das ein technisches System», so Jean-Luc Hofer. Trotzdem. Der Lokführer steht gern im Führerstand – ob mit technischer Assistenz oder Ruckeln, Zischen und Pfeiffen.