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Ein Kaffee, der zur Normalität werden soll

Über das Projekt «Café Surprise» und die Armut in Chur

«Jede oder jeder Achte aus Chur ist von Armut betroffen», beginnt Sozialdiakon Martin Jäger zu erzählen. Es ist Dienstagmittag, 13.30 Uhr im Café Giacometti. Die Mittagspause ist fast vorbei. Für einen «Kafi» reicht es dem Sozialdiakon aber noch. So auch für die beiden Gastgebenden des Cafés, Stef und Nici. Auch die Vierte am Tisch, Corina Pfiffner, Präsidentin des Evangelischen Hilfsverein Chur, bestellt sich noch einen Kaffee. Gelassen nehmen die vier immer wieder einen Schluck aus ihrer warmen Tasse.

Was wie gewöhnlicher Kaffee aussieht, ist aber keiner. Dieser konsumierte Kaffee gehört zum Projekt «Café Surprise». Corina Pfiffner erklärt, worum es sich hierbei handelt. «Ich konsumiere einen ganz normalen Kaffee, zahle aber zum gewöhnlichen Preis zusätzliche 2.50 Franken», sagt die Präsidentin des Evangelischen Hilfsverein Chur. Diese 2.50 Franken ermöglichen einer armutsbetroffenen Person einen Gratis-Kaffee, einen sogenannten «Café Surprise». Das Personal macht für jeden gespendeten Kaffe einen Strich auf eine Tafel. Jeder Strich bedeutet ein «Café Surprise». Zu einem anderen Zeitpunkt kann so eine bedürftige Person ohne Rechtfertigung einen Gratis-Kaffee beziehen. Es wird weder ein Name noch ein Ausweis verlangt. Der «Café Surprise» kann diskret und unauffällig bestellt werden.

«Dieses Projekt ermöglicht es armutsbetroffenen Menschen, einen kostenlosen Kaffee zu konsumieren» erzählt Corina Pfiffner. Man wolle diesen Menschen vereinfachen, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Das Ganze soll eine simple Geste gelebter Solidarität sein. Und man will die Bündner Bevölkerung auf das Thema Armut sensibilisieren. Diese gibt es nämlich auch hier in Chur, direkt vor unserer Haustüre.

Armut? Hier in Chur? Richtig. Sie tritt häufiger auf, als man denkt. Sozialdiakon Martin Jäger ist in seinem Beruf viel mit bedürftigen Menschen in Kontakt. Er weiss, wie schnell jede oder jeder in diese unangenehme Situation hineinrutschen kann. Deshalb nimmt er diese Menschen in Schutz. «Es heisst nicht, dass diese Menschen nicht mit Geld umgehen können», meint er. «Meistens sind sie aus ihren Arbeitsprozessen herausgefallen. Oder sie durchleben eine Scheidung», führt Martin Jäger fort. Die Finanzierung von zwei Haushalten sei für viele der Anfang des Endes.

Bei den jungen Leuten stelle der «unkomplizierte und schnelle» Kleinkredit oder ein Leasing-Vertrag häufig ein Problem dar. Das Abzahlen reiche meistens nicht. «Diese jungen Leute kommen dann bereits überschuldet in die Lehre», berichtet Sozialdiakon Martin Jäger. Nur wenig Jugendliche kämen nach ihrer Überschuldung wieder auf einen grünen Zweig.

Die Verschuldung beginnt also oftmals bereits in jungen Jahren. Und es wird mit der Zeit nicht einfacher. «Es kann alle treffen», betont Martin Jäger. Dennoch, viele Menschen, die von Armut betroffen sind, schämen sich. Sie wollen nicht, dass andere etwas von ihrer finanziellen Not mitkriegen. «Besonders alleinerziehende Mütter wollen nicht, dass man ihren Kindern in der Schule die Geldnot anmerkt», berichtet der Sozialdiakon.

Unter anderem genau für solche Fälle soll der «Café Surprise» eine kleine Entlastung sein. «Es soll zur Normalität werden, dass sich Armutsbetroffene einen ‹Café Surprise› holen können», berichtet Corina Pfiffner. Ganze zwölf Gastronomiebetriebe haben sich in Chur dazu bereiterklärt, bei «Café Surprise» mitzumachen. Eine hervorragende Zahl. Es sind gleich viele Gastronomiebetriebe wie in der Stadt Zürich.

Einer dieser zwölf Betriebe ist das Café Giacometti, in dem wir uns an diesem Dienstagmittag befinden. Für die beiden Gastbetreibenden Stef und Nici war von Anfang an klar, dass sie hierbei mitmachen wollen. Der soziale Gedanke gefalle ihnen besonders an dieser Aktion. «Ausserdem haben wir beide in unserer Vergangenheit auch Armut erlebt», verrät die Gastgeberin. Die beiden wissen, wie es sich anfühle, zu wenig Geld in der Tasche zu haben.

Und wie läuft das Projekt «Café Surprise» momentan? Die Tafel im Café Giacometti sagt schon einmal Gutes aus. Unzählige Striche sind vorhanden. Das heisst, einige Kaffees warten darauf, von Bedürftigen abgeholt und genossen zu werden. «Das Spenden ist kein Problem», so die Gastgeber. «Die Leute unterstützen das Projekt sehr gerne», meint sie weiter. «Aber noch nicht viele haben sich getraut, einen Kaffee holen zu kommen», führen sie weiter.

Und hier sind wir wieder, bei der Scham. Viele Armutsbetroffene trauen sich nicht, ihre Not zu zeigen. «Es braucht noch ein bisschen Zeit», ist sich Corina Pfiffner sicher. Für die Präsidentin des Evangelisch Hilfsvereins sei es kein Wunder, dass die Leute zuerst über ihren Schatten springen müssen. Und genau deshalb will sie ihnen Mut zusprechen. «Keiner muss sich schämen, einen solchen Kaffee zu beziehen – im Gegenteil», meint sie.

Der «Café Surprise», ist ein Kaffee, der zur Normalität werden soll. Er ist ein Kaffee, der Solidarität zeigt. Ein Kaffee, der Bedürftigen den Zugang zum öffentlichen Leben ermöglicht. Ein Kaffee, der die Gesellschaft auf Armut sensibilisiert. Ein Kaffee, der zeigen soll, dass man sich nicht für seine Not schämen muss. Denn wie es Sozialdiakon Martin Jäger so ausdrücklich gesagt hat: «Die Armut kann jede und jeden einholen.»

Der Evangelischen Hilfsverein Chur, der Churerinnen und Churern in Not hilft, und der Verein Surprise bringen das weltweit bekannte Konzept «Café Surprise» nach Chur. Unterstützt wird die Aktion von der Bürgergemeinde Chur und dem Verband Gastro Chur Region.