Der Weg der Zeitung
Der Himmel wird langsam dunkel. Von hellblau zu tiefblau. Nicht mehr lange, und die Nachtigall beginnt zu singen. Im Medienhaus von Somedia, wo tagsüber Nachrichten produziert, Radiosendungen gemacht und Interviews geführt werden, ist es nun still. Ruhig. Beinahe lautlos. Nur noch eine Handvoll Journalistinnen und Journalisten sitzen um 21 Uhr an ihren Schreibtischen. Sie machen die aktuelle Ausgabe der Tageszeitung «Südostschweiz» fertig. Die Abendausgabe als E-Paper ist schon hochgeladen, nur noch ein paar Seiten für die gedruckte Ausgabe müssen abgesegnet werden. Auf dem Bildschirm von Charlyn Jahnel erscheinen die Seiten grün. Alles gut also. «Ich bin froh, ist die Schlagersendung vom RSO fertig. Eine Stunde Schlager macht etwas mit einem», meint sie grinsend. Noch wartet sie auf die Sportseite. Der Kollege ein paar Tische weiter schaut abschliessend über seinen Artikel. Charlyn Jahnel checkt gleichzeitig immer wieder die Agenturmeldungen. Vielleicht kommt ja noch etwas Wichtiges, etwas Dringendes, rein. Dem ist nicht so. Es ist 21.45 Uhr und die Seiten werden in den Druck geschickt.
Eine halbe Stunde Autofahrt später im St. Gallischen Haag in der Druckerei der Somedia Partner AG. Der Äther ist nun tiefschwarz. Schwere Regentropfen fallen vom Himmel. Drinnen, auf dem Bildschirm von Schichtführer Reto Flisch, leuchten dieselben Seiten grün wie zuvor im Medienhaus in Chur. Es ist laut. Für das Gespräch zieht sich Reto Flisch erst die Stöpsel aus den Ohren. Rattern, Knattern, Piepsen. Es herrscht Hochbetrieb im Druckzentrum. Hinter dem Schreibtisch von Reto Flisch steht die Maschine, die die Druckplatten anhand der zugestellten PDFs herstellt. Vier Platten sind es pro Seiten. Je eine für Cyan, Magenta, Gelb (Yellow) und Schwarz (Key). Es ist eine Art Puzzle. Schicht für Schicht werden die Farben aufs Papier gebracht. Reto Flisch und sein Kollege Walter Neubauer kontrollieren die Platten. Und nach dem Druck, ob die Platten denn auch in der richtigen Reihenfolge in der Druckmaschine angekommen sind. «Sonst haben wir plötzlich einen grünen Kopf», erklärt der Schichtführer mit einer frisch gedruckten Zeitung in der Hand. Währenddessen kneift sein Kollege das eine Auge fest zusammen und blickt mit dem anderen durch eine Lupe. «So kontrollieren wir, ob alles schön aufeinander gedruckt wurde», kommentiert Reto Flisch. Die beiden Männer wirken zufrieden. Es scheint alles zu passen.
Bis 50 000 Zeitungen können so pro Stunde gedruckt werden. Die Druckmaschine ist mehrere Meter hoch. Die Papierrollen reichen dem grossgewachsenen Schichtführer bis fast zur Brust. Eigentlich ist alles sehr viel grösser als beim Drucker zu Hause. Anstatt einer Druckerpatrone werden die Farben mit Walzen auf die Platten aufgetragen. Gelagert werden die Farben in Tanks in Badewannengrösse. Reto Flisch führt durch das Druckzentrum und erklärt die Vorgänge. Vom Papierlager gelangen wir in den Rollenkeller, wo Rollen das Papier direkt in die Druckmaschine führen. Wir stehen also quasi im Papierfach. Durch einen Schlitz in der Decke kommt das Papier nach oben in die gigantischen Drucktürme. Oder besser gesagt in einen davon. Eine Lampe blinkt rot. «Papierstau», erklärt der Drucktechnologe. Das kommt dann doch bekannt vor.
Von der Druckmaschine nehmen wir eine steile Treppe. Oben werden die Zeitungsseiten zugeschnitten, gefalzt und zusammengefügt. Alles voll automatisch. Über ein Schienensystem kommen die frisch gedruckten Zeitungen dann zur Spedition. Fast wie von Zauberhand flattern die Zeitungen durch die heiligen Hallen. Unten begrüsst Heinz Salzgeber, ein breites Grinsen auf den Lippen. Die Stimmung ist fröhlich, von Müdigkeit keine Spur. Kein Wunder. Die Männer und Frauen sind sich die Nachtarbeit gewohnt, ja schätzen sie sogar. «Ich kann tagsüber sehr viel erledigen, habe mehr Freizeit und weniger Verkehr», fasst Heinz Salzgeber zusammen. Und wie ist die Schichtarbeit mit dem Sozialleben vereinbar? «Ich bin verheiratet», sagt er trocken. Seine Frau sei Tankstellenwartin und so hätten sie die Nachmittage oft gemeinsam. Nur an einem Vereinsleben teilzunehmen, das sei ein Ding der Unmöglichkeit. Das bestätigen auch Reto Flisch und Walter Neubauer. Und was ist mit Kindern? «Niemand von uns hat Kinder», meint Reto Flisch.
Auch in der Spedition knattert, rattert und piepst es. Mittlerweile ist es nach Mitternacht. Es wird fleissig frankiert und sortiert. Auch hier arbeiten die Maschinen und die Menschen kontrollieren, überwachen und greifen ein, wenn die Automaten Fehler machen. Die Chauffeurinnen und Chauffeure stehen draussen schon bereit. Ein Lieferwagen nach dem anderen wird gefüllt. Sie fahren nach Chur, ins Prättigau oder nach Ilanz – zum Beispiel. In den Lieferwagen werden die Zeitungen im ganzen Frühzustellgebiet verteilt und dort für die Zeitungsverträgerinnen und -verträger bereit gelegt. Es ist eine ganze Kette. Ein Prozess, der viele Leute eine ganze Nacht beschäftigt.
Etwa um 3 Uhr ist Lichterlöschen im Druckzentrum in Haag. Vom St. Galler Rheintal fahren wir wieder ins Churer Rheintal. In der Kantonshauptstadt treffen wir um 4.15 Uhr Vera Capaul-Rudolf. Eine echte Frühaufsteherin. Seit über 20 Jahren verteilt sie in Chur Zeitungen. Ihre Tour sei altersgerecht. «Das schaffe ich noch ein paar Jährchen», sagt sie gut gelaunt. Der Himmel über uns ist immer noch dunkel. Die Strassenlaternen brennen, jedoch nur an den Kreuzungen. Und doch ist schon Vogelgesang zu hören. «Das sind die Amseln. Sie sind die frühsten», kommentiert die Zeitungsverträgerin die Vogelmatinée.
Bei der GKB an der Kurfirstenstrasse lädt Vera Capaul-Rudolf die Zeitungen in ihr «Wägali». Die «Südostschweiz», das «Bündner Tagblatt», wenige Ausgaben des «Blicks» und viele Exemplare der «Büwo», die daran erinnern, dass bereits Mittwoch ist. Schnellen Schrittes geht die Churerin durch die spärlich beleuchteten und ihr bestens bekannten Gassen. Ohne auf einen Zettel oder dergleichen zu schauen, weiss Vera Capaul-Rudolf, in welchen Briefkasten welche Zeitung muss. Und sie kennt auch ihre «Pappenheimer», wenn man so will. «Die einen leeren ihren Briefkasten nie. Ich weiss auch nicht wieso. Daheim wären sie nämlich», sagt sie etwas resigniert.
Während sie weiterläuft, ja fast rennt, erzählt sie weiter. Von tierischen Begegnungen, Betrunkenen vor Türen und anderen Frühaufstehern. Ihr habe es nie viel ausgemacht, früh aus dem Bett zu kommen. «Wenn ich am Freitagabend meine Tanzshow sehen will, sind halt die Nächte kürzer. Dafür komme ich um halb 7 heim und habe mich schon bewegt», sagt sie und zuckt mit den Schultern. Mühsam findet sie es nur, wenn im Winter viel Schnee gefallen ist und sie vor den Räumungstrupps unterwegs ist. «Dann muss ich mein ‘Wägali’ stehen lassen und mit der Tasche verteilen. So bin ich natürlich viel länger dran. Aber was nützt’s? Ich habe es mir ja ausgesucht. Und es gibt ja auch kein Schlechtwetter, sondern nur schlechte Kleidung.»
Ihr gefalle die Stimmung am frühen Morgen. Dann, wenn so langsam alles erwacht. «Es schmeckt dann so gut. Und manchmal kann ich spezielle Himmelsphänomene betrachten», erzählt Vera Capaul-Rudolf. Wir blicken nach oben. Eine Fledermaus fliegt vorbei. In der Ferne ertönt ein lautes «Harck, harck». «Sieh an, die Krähen sind auch aufgestanden», meint die Zeitungsverträgerin, just, als das letzte Papier aus dem Wagen im Briefkasten landet. Der Himmel leuchtet mittlerweile hellrosa.