Zu Besuch beim Gian und Giachen
Mannomann, liebe Kinder. Habt ihr gewusst, dass es Steinwildkolonien gibt? Dass es Steinböcke hat, habe ich gewusst, aber dass die in Steinwildkolonien leben, das war mir neu. Ich hatte Mama und Papa gelauscht, wie sie über das Thema geredet hatten. Wusstet ihr auch, dass die armen Steinböcke bejagt, ausgerottet und dann wieder angesiedelt wurden, und dass das die erste Wiederansiedlung vom Artenschutzprogramm der Schweiz war? Meine Eltern sagen, dass heute fast 20 Kolonien existieren, und die befinden sich überall bei uns in den Alpen. Nun, da wir eh heute meine beiden Freunde Gian und Giachen besuchen wollen, interessiert mich das Thema schon ein bisschen. Apropos, meine beiden Freunde befinden sich auf dem Flüelagebiet. Na dann, Prost beim Wandern.
Verwandt mit der Ziege?
Eigentlich müsste ich auf Gian und Giachen recht sauer sein. Nicht weil sie im Fernsehen und im Radio so berühmt sind, sondern weil ich recht lange wandern muss, um sie zu besuchen. Müssen die unbedingt hoch oben in den Bergen leben? Aber da muss ich durch, obwohl wandern nicht so mein Ding ist. Am liebsten hänge ich mit meinen Freunden ab, oder wir skaten ein bisschen um die Wette.
Gian und Giachen und alle anderen Steinböcke sind wohl die stärksten und imposantesten Freunde, die ich habe, die in den Bergen wohnen, und irgendwie tun sie mir leid. Sie sind so berühmt, dass sie sogar für das Kantonswappen den Kopf hinhalten müssen. Auf Lateinisch heissen die Steinböcke Capricornus, hm, so wie in meiner Muttersprache Rätoromanisch, und von den Wildarten sind sie näher verwandt mit der Hausziege und nicht, wie viele denken, mit Gamsi, der Gämse. Was meine Eltern nicht alles wissen. Mama sagt, dass die abgelegenen Gebiete bei uns in den Alpen einen idealen Lebensraum für sie bieten, weil sie dort ihre Ruhe haben.
Mit leerem Magen auf die Jagd
Das Thema interessiert mich. Ich hoffe, dass das Thema Wildkunde bald nach den Schulferien bei uns in der Schule durchgenommen wird. Mein Opa hat, als er noch «Bündner Jäger»-Redaktor war, in den Schulen über Wild und Wald gelehrt und darüber geschrieben. Mich schaudert es, dass die armen Tiere gegen Ende 1650 in der Schweiz fast ausgerottet wurden. Mama sagt, dass das eine ganz schlimme Zeit war. Irgendwie begreife ich auch unsere Vorfahren. Mit leerem Magen gingen sie auf die Jagd, um ihre Familien mit den vielen Kindern zu ernähren. Ich kann kaum glauben, was wir heute alles zu essen haben und was die Menschen tagtäglich wegschmeissen. Aber so waren die Zeiten damals eben.
Wisst ihr, was noch schlimmer war? Gejagt wurden sie auch wegen ihrer besonderen, heilenden und kraftspendenden Wirkung. Ein Aberglaube, der besagt, dass die armen Steinböcke besondere Säfte und Kräfte besitzen und das Fleisch und ihre Fettpolster, die sie im Winter brauchen, gegen alle Erkältungen helfen würden. Sogar das Gehörn wurde fein zerrieben. Zum Glück leben wir heute in anderen Zeiten.
Gestohlen?
Mama sagt, dass irgendwo so ein komischer italienischer König die wenigen Steinböcke, die überlebt hatten, in der Valle d’Aosta unter Schutz gestellt hatte. Heimlich wurden sie von uns Schweizern einzeln in die Schweiz nach St. Gallen geschmuggelt. Das ist nicht die feine Art und Tiere stehlen geht gar nicht. Aber eben, das waren andere Zeiten.
Nun heisst es, Rucksack packen. Ich muss bald los. Mama hat mir neue Wanderschuhe gekauft und die müssen ausprobiert werden. An die Blasen will ich gar nicht denken. Gian und Giachen brauchen keine Schuhe, dafür sind sie hervorragende Kletterer, und das Schuhwerk respektive die Schalen, die sie besitzen, sind perfekt an die Bedingungen am Berg angepasst. Mit den spreizbaren, weichen, gummiartigen Sohlen sind sie besonders gut für das Leben in der Felsregion ausgestattet.
So, und jetzt muss ich mich aber beeilen. Während ich euch von Gian und Giachen erzählt habe, sind Mama und Papa schon weitergezogen.