Hirschi ist nicht gut drauf
Brrr. Es ist kalt draussen. Während wir, liebe Kinder, in der warmen Stube spielen, müssen meine Wildtierfreunde tief im Wald der Kälte trotzen. Und Hunger haben sie auch. Im Sommer ist das mit dem Essen kein Problem. Da finden sie überall reichlich Nahrung. Aber im Winter ändert sich ihre Situation schlagartig. Nicht nur für den Hasen Lepus, sondern für alle Wildtiere. Auch mein lieber Freund Hirschi – er ist ein richtiges Hirschtier und Papa von Vrieli – zieht sich in den Wald zurück. Dort gibt es nicht viel zu fressen und die Schwächsten überleben den Winter nicht. Das sei sehr traurig, verrät Hirschi.
Ja, das Leben bei meinen Wildtierfreunden ist im Winter kein Zuckerschlecken. Darum führe ich James immer an der Leine, wenn ich durch den Wald spazieren gehe, damit er ja keine Wildtiere aufschreckt.
Apropos Hirschi. Hast du auch schon mal einen starken Hirsch mit einem prächtigen Geweih gesehen? Wie alt hast du ihn geschätzt? Hmm? Von Weitem ist es unmöglich, bei einem Hirsch am Geweih das Alter zu bestimmen. Selbst anerkannte Jäger und Wildexpertinnen haben Schwierigkeiten, das genaue Alter eines lebenden Tieres sicher zu bestimmen. Ja, selbst sogenannte Jagdpäpste, die bei jedem Wildtier mehr oder weniger das Geburtsdatum nennen können, müssen hier passen. Aber eben, auch die wissen nicht alles.
Liebe Kinder, ich kann euch und euren Eltern einige Tipps geben, was das Alter meiner Freunde betrifft. Mein Opa kennt sich da bestens aus und zeigt mir, auf was ich achten soll. Die sicherste Variante, das Alter zu bestimmen, wäre die Zahnabnutzung. Denn das wäre die gebräuchlichste und sicherste Methode, das Alter von Hirschi zu bestimmen, meint mein Opa. Man müsste dann nur einen Blick auf seine Zähne werfen. Aber wer macht das schon? Beim Kalb, also das wäre Vrieli, fehlen die hinteren beiden Backenzähne, denn Vrieli besitzt nur 22 Zähne. Aber Hirschi schaue ich sicher nicht ins Maul. Er stinkt fürchterlich. Aber nicht weitersagen, sonst ist er beleidigt.
Für euch, liebe Kinder, genügt es, das Alter eines Hirsches nach folgenden Kriterien zu bestimmen: Ist es ein junges Tier, so wie Vrieli? Ein einjähriger Hirsch? Oder ist es ein Schmalhirsch? Und dann gibt es noch die älteren Gruftis. Der Papa von Hirschi ist eben so einer. Kluge Menschen sagen, dass die männlichen Hirsche zu den Cerviden gehören. Das ist Lateinisch und soll heissen, dass die Cerviden jedes Jahr ein neues Geweih erhalten, weil das alte Geweih abgeworfen wird. Die Form des Geweihs hängt vom Alter und der Art ab. Bei manchen Hirschen sind es einfache, spiessförmige Stangen. Bei anderen weist es weitverzweigte oder schaufelförmige Strukturen auf. Oder eine Krone. Eine Krone? Wenn Opa von einer Krone redet, meint er nicht die eines Königs, sondern das Ende des Geweihs des Stiers. Wenn er am Ende des Geweihs mehr als drei Zinken besitzt, dann trägt der Hirsch eine Krone. Opa weiss einfach alles. Bei unserem Lehrer im Fach Naturkunde haben wir das bereits einmal gelernt, aber in der Praxis sieht das viel echter aus.
Bevor ich wieder nach Hause gehe, muss ich noch kurz erzählen, warum Hirschi im Herbst kaum ansprechbar war. Es fängt Ende September an und dauert etwa zwei bis drei Wochen. Ich dachte zuerst, dass es Gespenster waren, die durch den Wald streiften und mit lautem Röhren die Gegend unsicher machten. Aber nein! Das durch Mark und Bein gehende animalische Röhren im Wald kam von Hirschi und seinen männlichen Kollegen. Während dieser Zeit röhrte und stank Hirschi sehr stark und er war einfach unausstehlich. Opa meinte, dass ich zu jung bin, um das zu verstehen.
Oh, jetzt muss ich mich sputen. Am Abend wird es schnell dunkel, und dann möchte ich nicht noch draussen im Dunkeln sein. Während ich nach Hause gehe, kommen mir komische Gedanken: Papa Hirschi trägt ein Geweih, Mama Hirschi nicht, Vrieli noch nicht und James, mein treuer Hund gar nicht. Schon komisch, warum tragen wir Menschen kein Geweih? Na ja, dann frage ich mal Mama. «Mama, warum tragen Menschen kein Geweih wie Hirschi? Ich will auch so einen schönen Kopfschmuck haben». Mama droht mir mit dem Kochlöffel. Heute ist sie nicht gut drauf. Dann gehe ich halt ins Bett, und James nehme ich auch mit. «Pfusat guat, liabi Kind…»